Mesusa - Annelie
 


 
 


Christian Schmidt

Chagall und Vitebsk

„Hauptseminar: Vitebsk – Avantgarde-Kulturen (Literatur, Malerei)“. Zugegeben – zunächst konnte ich recht wenig damit anfangen. Bei genauerem Hinsehen stellte ich fest, daß drei Dozenten das Seminar abhielten. Eine kurze Recherche führte dann auch bald zu Schlagworten wie „Futurismus“, „Kubismus“, „Chagall“, „Malevič“ und „Chlebnikov“. Gespannt, wie so ein Seminar ablaufen würde, meldete ich mich an. Bereits in den ersten Sitzungen wurde klar, daß dieser Kurs anders werden würde, als es sonst in einem dank Bologna-Prozeß immer mehr verschulten Studium üblich ist.
Durch den interdisziplinären Ansatz wurde den Studierenden ein hochinteressanter Einblick in die Vitebsker Avantgarde gewährt. Die Vermengung der verschiedenen Kunstrichtungen, wie sie in avantgardistischen Manifesten wie „Eine Ohrfeige dem öffentlichen Geschmack“ oder „Das Wort als solches“ gefordert wird, die Verquickung von Literatur und bildender Kunst fand im Seminar ihren Ausdruck. Dadurch, daß das Seminar von drei Dozenten geleitet wurde, konnten verschiedene Aspekte umfassend beleuchtet werden, was in meinen Augen immer wieder zu sehr aufschlußreichen Diskussionen innerhalb des Seminars führte. Letztlich konnte gerade dadurch erst ein umfassendes Gesamtbild der russischen Avantgarde entstehen – Literatur, bildende Kunst, aber auch gesellschaftliche, politische und soziale Hintergründe wurden beleuchtet.

Exkursion nach Belarus – Zwischen Vitebsk und Minsk

Seine konsequente Weiterführung fand das Seminar in einer Exkursion nach Belarus. Der Eindruck,  den unsere Ziele Minsk und Vitebsk auf uns machten, konnte verschiedener kaum sein. Auf der einen Seite Vitebsk, die Geburtsstadt Chagalls, die wir bereits aus vielen seiner Bilder und Texte kannten. Er selbst beschreibt Vitebsk als einen Ort der Muse, als eine Stadt die lebendig und leicht ist. Nicht nur seine Frau Bella bringt ihn zum Schweben, nein, auch Vitebsk.
Noch heute finden wir viele Orte aus Chagalls Leben und Bildern in Vitebsk. Sein Wohnhaus, die von ihm geleitete Künstlerische Volkslehranstalt, die alten Backsteinhäuser, selbst die Synagoge, die seinem Vater als Gebetsort diente und die mittlerweile eine Ruine ist, besitzen immer noch ihre alte Strahlkraft. Der Geist, der hier in den 1920er Jahren gewirkt hat, ist an vielen Orten spürbar und hat die schweren Zerstörungen der Stadt im 2. Weltkrieg überdauert. Dennoch, Minsk und Lukaschenko werfen ihre Schatten voraus und sind auch in Vitebsk spürbar. Knüpft Vitebsk einerseits durch das „Kunstzentrum Marc Chagall“ und das zum Museum umfunktionierte Wohnhaus Chagalls an seine großartige Vergangenheit an, so findet sich andererseits auch der (bislang) vergebliche Kampf der Leiterin des Kunstzentrums, Ljudmila Chmel’nickaja, um die Vitebsker Künstlerische Volkslehranstalt. An diesem Ort lehrten einst Größen der Avantgarde wie Chagall, El Lissitzky und Malevič, im Moment jedoch verfällt er immer mehr. Der weißrussische Staat steht einer Nutzung der Räumlichkeiten als Museum bislang im Weg.
Das Selbstbild dieses weißrussischen Staates sollte sich uns dann in Minsk vollständig zeigen. Lukaschenkos Regierung versucht, die Hauptstadt auf eine teilweise groteske Art und Weise als Vorzeigehauptstadt zu generieren. Mit seinen neosozialistischen Prachtbauten, seinen sowjetischen Heldendenkmälern wie dem Denkmal des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg und seinen breiten Hauptstraßen mit scheinbar endlosen Häuserzeilen erinnert Minsk eher an einen Anachronismus als an eine lebendige Stadt. Der auf vielen propagandistischen Bannern zu lesende Spruch „Kвітней Беларусь“ – „Blühe Belarus“, mag da schon fast zynisch anmuten. Dennoch, auch in Minsk fanden sich hinter der dick geschminkten Fassade Hinweise auf die Themen unseres Seminars. In einigen Museen sehen wir Bilder Jehuda Pens, gar ein Porträt Marc Chagalls und erfahren, daß in den Archiven noch einige Arbeiten auf ihre Restauration oder Neuentdeckung  warten. Ganz allgemein bemerken wir aber auch den Gegenentwurf zu Lukaschenkos Regierung. Bei einer etwas anderen Führung durch die Stadt zeigt uns ein Minsker Stadtarchivar ganz schonungslos die Schattenseiten der Bauwut Lukaschenkos, führt uns aber auch zu den letzten Überresten der alten Bausubstanz.

Wir erfahren zudem, daß es weiterhin im Untergrund tätige Personen gibt, die sich noch nicht mit dem oktroyierten status quo abgefunden haben. Untergrund ist hier keine moderne Szenebezeichnung, nein, hier wird er zu einem wichtigen Überlebensfaktor, wie man immer wieder in den Berichten über politische Repressionen in den westeuropäischen Medien lesen kann. Mein persönlicher Höhepunkt war dabei eine flashmobartige Fahrraddemonstration gegen die Umweltverschmutzung in Minsk.
Bereits auf der Heimreise versuche ich die ganzen Eindrücke, die ich in Belarus gewonnen habe, zu ordnen. Ein abschließendes Bild dürfte ich mir bis heute nicht geschaffen haben. Zu groß scheinen die Widersprüche zwischen Minsk und Vitebsk, Vergangenheit und Gegenwart.

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Von Chagalls Vitebsk beeindruckt – Die Idee einer Ausstellung entsteht

Nach der Rückkehr aus Belarus war sehr schnell klar, daß die großartigen Bilder und Eindrücke, die wir dort gesammelt hatten, mehr verdienten, als in einem Photoalbum zu enden. Die Spurensuche in Belarus hatte gezeigt, daß dieses Land, vor allem aber Vitebsk, noch andere Seiten besitzt, als die Berichterstattung in den Medien zeigt. Für mich war es ein wichtiges Ziel, Belarus nicht nur als „letzte Diktatur Europas“ zu zeigen. Dafür besitzt dieses Land ein zu reiches kulturelles Erbe. Eine reine Fokussierung auf Lukaschenkos Machenschaften ist letztlich in meinen Augen auch ein Sieg des Autokraten. Das unter der Oberfläche existierende kulturelle Belarus verdiente eine genauere Betrachtung – es mußte einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Zu diesem Zweck entschlossen wir uns, eine Ausstellung zu organisieren, in deren Rahmen es uns möglich war das „andere“ Belarus zu präsentieren. 

Für mich war es die erste Mitarbeit an einem Ausstellungsprojekt. Im Nachhinein muß ich zugeben, daß ich die Arbeit, die für ein derartiges Vorhaben notwendig ist, deutlich unterschätzt habe. Dies ist für mich jedoch kein negativer Aspekt, es ist schlichtweg Teil eines Lernprozesses.
Am Anfang der Ausstellungsvorbereitungen stand die gemeinsame Sichtung des Bildmaterials. Über 3000 Aufnahmen mußten gesichtet werden. Erste Kategorisierungen wurden vorgenommen, und mit der Zeit kristallisierten sich die verschiedenen Themenkomplexe heraus.
Thematisch bildete erneut Chagall den Mittelpunkt. Vieles von dem, was er in seinen Bildern malte,  fanden wir im heutigen Vitebsk wieder. So schwebt seine Muse Bella nicht nur in seinem Gemälde „Der Spaziergang“ über ihm, auch das Chagall-Denkmal in Vitebsk zeigt sie über ihm schwebend. Auch die Backsteinhäuser des jüdischen Vitebsk finden sich sowohl in seinen Bildern als auch in der heutigen Stadt. Die Gegenüberstellung von Chagalls Gemälden mit den von uns gemachten Photos bildete so das Zentrum unserer Ausstellung. Gleichzeitig sollten aber auch einige der übrigen Bilder zu Vitebsk und Minsk gezeigt werden. Thematisch versuchten wir auch dort Paare zu finden, wie „Ideologie und Propaganda“, „Blüte und Verfall“, oder das Motiv der Straßenlaternen.

Die Ausstellung „Marc Chagall und Vitebsk: Gestern und Heute“

Während die äußerst zeitintensive Auswahl der auszustellenden Photos und Chagallbilder noch in vollem Gange war, mußten weitere grundlegende Aufgaben erledigt werden. Dies umfaßte neben  der Suche nach einer passenden Lokalität für die Ausstellung auch die Werbung von finanziellen Mitteln. Unterstützung erhielten wir dabei von der „Regensburger Universitätsstiftung Pro Arte“ und durch „Die Junge Akademie“. Nachdem also neben dem thematischen Rahmen schließlich die Fragen des Ausstellungsortes und der finanziellen Ausstattung geklärt war, zeigte sich, daß für den Aufbau und die Organisation einer solchen Ausstellung vor allem ein funktionierendes Team unerläßlich ist. Bisher habe ich mich eher weniger als teamfähig gesehen, wurde aber auch in diesem Punkt eines besseren belehrt. Die regelmäßigen Treffen wurden so für mich bereits sehr schnell nicht zu einer Pflicht, sondern waren ein fester, erfreulicher und motivierender Bestandteil in meiner Tagesplanung. Schnell hatte ich das Gefühl, daß eine Gemeinschaft entstanden ist, die durch das gemeinsame Ziel an einem Strang zog und dieses auch erreichen konnte. Obwohl jeder Einzelne natürlich weiterhin seinen übrigen universitären Aufgaben nachkommen mußte, entstand eine Arbeitsatmosphäre, die – zumindest für mich – in dieser Form in meinem Studium noch nicht aufgekommen ist.
Durch mein Auto war ich geradezu prädestiniert, viele der Einkäufe zu erledigen. Vieles stellte sich dabei als deutlich komplizierter heraus als der durchschnittliche Wocheneinkauf im Supermarkt. So lernte ich schnell, daß auch ein so großes Unternehmen wie Ikea nicht unbedingt 51 Bilderrahmen der gleichen Sorte auf Lager hat.
Ich glaube, ich kann für alle sprechen, wenn ich sage, daß die Zeit geradezu verflog und wir zwischen Bilderauswahl, der Organisation von Werbematerialen, dem handwerklichen Aufbau der Ausstellung, dem Ausdrucken der Chagall-Bilder und unseren eigenen Photographien, den Einkäufen und den unzähligen sonstigen kleinen und großen Arbeiten eine immer größere Vorfreude auf die Eröffnungs-veranstaltung verspürten.
Auch wenn in den letzten Tagen der Vorbereitung doch einiger Streß aufkam, so war unsere Arbeit dennoch weiterhin fokussiert und ohne Panik. Ich denke, wir wurden dann alle für die Arbeit entschädigt, als wir sahen, welch großen Zuspruch die Eröffnung fand. Diese wurde durch eine szenische Lesung unterstützt, unter anderem  mit Chagalltexten in jiddischer Sprache. Zudem trug eine Violinistin Klezmermusik vor und unterstrich damit das Thema der Ausstellung.
Auch in den nachfolgenden Tagen wurde die Ausstellung weiterhin von vielen Interessierten besucht, was sich auch darin zeigt, daß einige Besucher die Möglichkeit nutzten, selbst etwas mit Wasserfarben an der von uns aufgestellten Staffelei zu malen – und dadurch einige gute Bilder entstanden sind.
Ebenso wurde das Gästebuch genutzt, welches uns ein durchweg positives Feedback beschied. Ein Artikel in der Mittelbayerischen Zeitung zeigte, daß die Presseresonanz ebenfalls positiv war, auch wenn man über den ein oder anderen Fehler in diesem Beitrag hinwegsehen muß. Im Gespräch mit den Besuchern der Ausstellung konnte man vor allem eines feststellen: Viele kannten zwar Chagall, aber seine Verbindung zu Belarus und Vitebsk war oft unbekannt. So wurde für viele aus dem französischen Künstler Marc Chagall nun auch der russisch-jüdische Maler Moische Segal. Gleichzeitig konnte die Ausstellung ein anderes Bild von Belarus vermitteln. Nicht mehr Lukaschenko und seine autokratische Herrschaft standen wie so oft im Mittelpunkt. Stattdessen wurde das „andere Belarus“ in den Mittelpunkt gerückt. Gerade in meinem Bekanntenkreis, in dem ich bereits vor der Abreise nach Belarus einige Gespräche geführt hatte und die Resonanz damals eindeutig zeigte, daß man dieses Land nur oberflächlich kennt, konnte ich diesen durch die Ausstellung veränderten Blickwinkel auf Belarus feststellen.

Was bleibt?

Mein ganz persönliches Fazit fällt abschließend vor allem positiv aus. Bei einer Ausstellung mitzuarbeiten, ist für mich eine völlig neue Erfahrung gewesen. Beeindruckt hat mich vor allem, die gute Zusammenarbeit und das dadurch erst möglich gewordene Ergebnis. Das Hauptseminar, in dessen Rahmen ich nebenbei erwähnt noch eine Bachelorarbeit schreiben konnte, entwickelte bald eine eigene Dynamik, die glücklicherweise nicht gebremst, sondern zugelassen wurde. Ich möchte soweit gehen und sagen, daß ich in der Endphase meines Bachelorstudiums das gefunden habe, was ich mir ganz zu Beginn auch davon erwartet habe. Freies und kreatives wissenschaftliches Arbeiten, die Möglichkeit, eigene Schwerpunkte zu setzen und Projekte zu erarbeiten, die über den eigentlichen Umfang der Kurse hinausgehen.

 

Christian Schmidt, geboren 1987 in Aschaffenburg. 2010 Abschluß des Bachelor-Studiums der russischen Philologie und der Geschichte, derzeit Master-Studium der Slavistik. Interessensschwerpunkte: Geschichte des russischen Anarchismus, russische Avantgardelyrik Chlebnikovs.
Bisherige Auslandsaufenthalte: Teilnahme am Tandemprojekt der Universität Regensburg in Odessa, Studienfahrt nach Belgrad, Exkursion nach Vitebsk und Minsk im Rahmen des Hauptseminars „Vitebsk – Avantgarde-Kulturen (Literatur, Malerei)“.

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